Die Träumerei hat ein Ende und mit ihr das goldene Zeitalter der sorgenfreien Streamingdienste: Der Produktionsstop von HBO Max in mehreren europäischen Märkten ist der jüngste Schock. Es ist ein neuer Realismus, dem sich Streamer bislang entziehen konnten. Ein Kommentar.
Nicht nur Netflix wird gerade von der Realität eingeholt und muss sich von hunderten Mitarbeitenden trennen sowie Programmstrategie anpassen, auch HBO Max (das vorerst gar nicht nach Deutschland kommt) kürzt seine globalen Ambitionen und stoppt zahlreiche Produktionen in Europa, wie „Variety“ am Montag zuerst berichtete. Das Publikum wird all das erst mit Verzögerung zu spüren bekommen, möglicherweise sogar erleichtert sein: Das Überangebot von Plattformen, Inhalten und ein fast bis zur Unauffindbarkeit guter Inhalte diversifizierter Serienmarkt haben den Sättigungsgrad eines 2. Weihnachtsfeiertags erreicht.
Die Produktionslandschaft wiederum spürt diese Kurskorrekturen bereits jetzt. Wenn Netflix eine deutsche Serie wenige Wochen vor Drehstart streicht oder jetzt HBO Max gleich mehrere Serienprojekte in Skandinavien sowie Entwicklungen in den Niederlanden und der Türkei einstellt, ist das nicht nur für die betroffenen Kreativen und Produktionsfirmen bitter. Die Wirkung geht darüber hinaus: Verunsicherung in der Produktionsbranche darüber, wie viel unbeschwerte Wachstumsfantasie noch im Streaming-Geschäft steckt, denn in der Euphorie der ersten Jahre haben sich viele mitreißen lassen.
Ganze Strukturen wurden geschaffen, um den vermeintlich stetig wachsenden Appetit der Streamer zu bedienen. Wer nicht schon eine hatte, aber was auf sich hielt, gründete eine Produktionsfirma für HighEnd-Fiction. Oder aber für Dokumentationen, mindestens aber eine Abteilung dafür. Wenn etwas die Vielzahl der Streamingdienste toppen konnte, dann die Anzahl an Unternehmensgründungen um das goldene Streamingzeitalter mit Nachschub zu versorgen. Immer mehr Plattformen, immer größerer Appetit auf Programmstunden und dabei immer außergewöhnlich? Dieses Bild bekommt Risse.
Genau genommen gab es die schon länger, doch sie wurden ignoriert. Als Netflix in diesem Frühjahr die Prognosen für die Abo-Entwicklungen korrigieren musste, wurde das von manchen Medien als „Netflix-Schock“ bezeichnet, weil oft scheinbar zum ersten Mal auf die Kostenseite der globalen Expansion geschaut wurde. Viel zu lange galt in der heilen Streamingwelt - und als Synonym für den Trend eben besonders bei Netflix: Die Budgets sind unendlich, der Mut außergewöhnlich und alle Konventionen außer Kraft - weil alles immer weiter wächst.
Ohne Zahlen kann einfach alles ein Erfolg sein
Mangels Transparenz bei den Nutzungszahlen schien Streaming das Paradies zu sein. „Keine Fixierung mehr auf die Quote“, wurde auch von Kreativen gejubelt. Ohne veröffentlichte Zahlen kann einfach alles ein Erfolg sein, wenn das Image stimmt. Und das passte beim Streaming. Als Netflix im September 2014 nach Deutschland kam, war man nicht nur im Publikumsmarkt schon eine begehrte Marke - auch viele Journalistinnen und Journalisten schienen berauscht und blieben es einige Jahre. Endlich zeige mal jemand dem trägen öffentlich-rechtlichen Rundfunk und den unsäglichen Privatsendern, wie man es richtig macht.
Netflix-CEO Reed Hastings
Reed Hastings, der damals zum Deutschland-Start aus Kalifornien angereiste CEO, hatte wenig Kritik zu befürchten. Das lag einerseits an der merkwürdigen Sehnsucht heimischer Kulturpessimisten nach einem Messias der Unterhaltung, der uns aus der vermeintlichen Trostlosigkeit retten möge - und eben der fehlenden Einsicht in die Performance, also Abrufzahlen, der Netflix-Produktionen.
Gut gebrieft, wie es sich für Medienprofis in US-Chefetagen gehört, war ein gehaltvolles Interview mit Reed Hastings damals schwieriger als einen Pudding an die Wand zu nageln. DWDL ist daran gescheitert - hat das geführte Gespräch voller Floskeln nie veröffentlicht, was für Fassungslosigkeit bei der engagierten deutschen PR-Agentur sorgte, aber letztlich egal war. Es gab Porträts und Interviews im Überfluss, denn niemand verkörperte die Lässigkeit des neuen Streamings so sehr wie der zweifelsohne charismatische Reed Hastings. Netflix, das war ein Gefühl. Kritik wurde in den ersten Jahren selten angebracht.
Die Erkenntnis, dass auch Streamingdienste durchaus Durchschnittliches oder gar Quatsch anbieten, brauchte etwas länger. Und dass es sich auf Dauer nicht rechnen kann, wenn die Zahl der Hits zu niedrig ist und der Wettbewerb intensiver wird - das dauerte noch einmal einige Jahre. Neulich dann die Negativ-News von Netflix, dann der überraschende Produktionsstop zahlreicher HBO Max-Produktionen und -Entwicklungen. Nicht nur der Pionier der Streamingdienste, auch die nächste Generation kann oder will nicht weiter Milliarden per Gießkanne über die Märkte hinweg investieren.
Die Zeiten der Gießkanne sind vorbei
Netflix-Managerin Bela Bajaria
Projekte kommen hier wie dort auf den Prüfstand, die Vorstellungen für mögliche Aufträge werden strikter. Die neue kreative Freiheit, die Streaming einmal für Autorinnen und Autoren so viel verlockender machte, schwindet. Noch bis vor wenigen Monaten galt keine Nische als zu klein für eine Serienproduktion, weil diese global groß genug sein könne. So argumentierte u.a. Netflix-TV-Chefin Bela Bajaria aber auch ihr Vorgesetzter, Programmchef Ted Sarandos oft. Doch diese Argumentation hat sich bei Netflix wie auch HBO Max ein Stück weit überholt - und das war absehbar.
Jahrelang haben sich Streamingdienste ein Stück weit selbst belogen, wenn sie sich für ihre manchmal gewagten lokalen Produktionen haben feiern lassen - und das soll nicht die kreativen Leistungen diskreditieren. Man könne so viel in die Nische bzw. einzelne Märkte investieren, weil die Programme auf dem eigenen Service ja auch international verwertbar wären. Das klang toll, machte sich gut in den Argumentationen auf Podien und in Interviews. Auch Kreative durften in Interviews schwärmen, dass Streamer X oder Y sich endlich traue, was niemand sonst sich getraut hätte. Und dann bekomme die Story auch noch ein globales Publikum!